Die Fußball-WM und ihr Staat

Aus Gründen der Vollständigkeit fehlt noch ein Beitrag zum Thema Fußball-WM. Da ich in letzter Zeit wieder öfters Umberto Eco lese, habe ich mal etwas aus „Über Gott und die Welt“ ausgegraben. Im Kapitel „Nachrichten aus dem Weltdorf“ sagt er folgendes (In Auszügen. Wer’s nicht versteht oder nicht glaubt, sollte es selber lesen – vielleicht hilft es,und Eco lesen ist immer gut.

Nun muß ich jedoch betonen, daß ich keineswegs gegen die Fußball-Leidenschaft bin. Im Gegenteil, ich begrüße sie und halte sie für einen Segen. Jene verzückten Massen, die sich allwöchentlich brüllend im Stadion drängen, übereinander herfallen oder vom Schlag getroffen zusammenbrechen, jene wackeren Schiedsrichter, die sich für einen Sonntag Berühmtheit wüsten Beschimpfungen aussetzen, jene von weither angereisten und zu Recht so genannten Schlachtenbummler, die blutend aus ihren Bussen quellen, verletzt von zerschlagenen Schaufensterscheiben und Schlägereien, jene grölenden Fans, die abends sieges- und biertrunken durch die Straßen karriolen, ihre Clubfahnen aus den Fenstern des überladenen Fiat 500 schwenkend, bis sie an einem Lastzug zerschellen, jene hochgezüchteten Recken, seelisch zerrüttet durch peinvolle sexuelle Abstinenzen, jene zerstörten Familien, wirtschaftlich ruiniert durch Kartenkäufe zu irrsinnig überzogenen Schwarzmarktpreisen, jene Enthusiasten, die sich mit ihren eigenen Knallfröschen blenden, sie alle erfüllen mein Herz mit Freude.

Ich bin für die Fußball-Leidenschaft, wie ich für Autorennen bin, für Mopedrennen am Rande von Abgründen, für das fanatische Fallschirmspringen, den mystischen Alpinismus, die Überquerung der Ozeane auf Gummibooten, das russische Roulette und die Droge. Rennen meliorieren die Rassen, und all diese Spiele führen glücklicherweise zum Tod der Besten, so daß die Menschheit hernach in Ruhe weiter ihren Geschicken nachgehen kann mit normalen, durchschnittlich entwickelten Protagonisten. In gewissem Sinne würde ich jenen Futuristen zustimmen, die einst den Krieg als die einzige wahre Hygiene der Welt bezeichneten – lediglich mit einer kleinen Korrektur: Er wäre es, wenn er sich nur mit Freiwilligen führen ließe. Unglücklicherweise zieht er jedoch auch die Widerstrebenden mit hinein, und deshalb ist er den Sportspektakeln moralisch unterlegen.

Wohlgemerkt, ich spreche von Sportspektakeln und nicht vom Sport. Der Sport, verstanden als eine Tätigkeit, in der einer ohne Gewinnstreben und durch unmittelbaren Einsatz des eigenen Körpers physische Exerzitien betreibt, die seine Muskeln üben, sein Blut zirkulieren und seine Lungen voll durchatmen lassen, der Sport, sage ich, ist eine sehr schöne Sache, zumindest so schön wie der Sex, die philosophische Reflexion und das Glücksspiel mit Erbsen als Einsatz.

Doch der als Spektakel organisierte Fußball hat nichts mit einem so verstandenen Sport zu tun. Nicht für die Spieler, die als Profis einem Leistungsdruck unterliegen, der kaum geringer ist als der eines Fließbandarbeiters (abgesehen von ein paar kleinen Einkommensunterschieden), nicht für die Zuschauer – also die große Mehrheit -, die sich exakt so verhalten wie Horden geiler Voyeure, die regelmäßig zugucken gehen (nicht bloß einmal im Leben in Amsterdam, sondern jedes Wochenende, und anstatt zu), wie Paare sich paaren oder so tun als ob (oder wie jene ärmsten Kinder in meiner Jugend, denen man versprach, sie sonntagnachmittags mitzunehmen zum Zugucken, wie die Reichen Eis löffeln).

Nach diesen Prämissen wird man verstehen, wieso ich mich zur Zeit so entspannt fühle. Neurotisiert wie jeder von uns durch die schlimmen Ereignisse der vergangenen Monate, nach einem dramatischen Halbjahr, in dem man viele Zeitungen lesen und dauernd am Fernseher hocken mußte im Warten auf das neueste Kommuniqué der Roten Brigaden oder die Verheißung einer weiteren Eskalation des Terrors, kann ich in diesen Wochen, seit „König Fußball regiert“, getrost aufs Zeitunglesen und Fernsehgucken verzichten, es genügt ein rasches Überfliegen der achten Seite nach Meldungen über den Prozeß in Turin, die Lockheed-Affäre und das Referendum, der Rest ist voll von jenen Dingen, über die ich nichts wissen will – und die Terroristen, die den Sinn für die Massenmedien hochentwickelt haben, wissen das ganz genau und versuchen gar nicht erst, irgendwas Interessantes zu unternehmen, es würde doch nur zwischen „Vermischtem“ und „Ratschlägen für die Küche“ landen.

Man braucht sich auch nicht zu fragen, warum die WM in so krankhafter Weise das Interesse des Publikums und die Andacht der Massenmedien auf sich zieht: Von der bekannten Geschichte der Komödie des Terentius, der die Zuschauer wegliefen, weil es das Schauspiel mit den Bären gab, über die scharfsinnigen Betrachtungen römischer Imperatoren zur Nützlichkeit der Circenses bis hin zum gezielten Gebrauch, den seit jeher die Diktaturen (einschließlich der argentinischen) von den großen Wettkampfereignissen machen, ist es dermaßen klar und offenkundig, daß die Mehrheit sich lieber mit Fußball und Radrennen als mit der Abtreibungsfrage befaßt und lieber mit Bartali als mit Togliatti, daß es die Mühe nicht lohnt, sich darüber noch groß Gedanken zu machen.

Doch da ich nun einmal durch äußeren Anstoß dazu gebracht worden bin, ein bißchen darüber nachzudenken, sei ein Gedanke denn hier geäußert: Nie hat die öffentliche Meinung, besonders in Italien, eine schöne Weltmeisterschaft so dringend gebraucht wie gerade jetzt.

Tatsächlich ist ja, wie ich vor Jahren schon einmal zu bemerken Gelegenheit hatte, die Sportdiskussion (ich meine das Sportspektakel, das Reden über das Sportspektakel, das Reden über die Journalisten, die über das Sportspektakel reden) der bequemste Ersatz für die politische Diskussion. Anstatt sich ein Urteil über die Operation des Finanzministers zu bilden (wozu man etwas von Wirtschaft und anderem mehr verstehen müßte), diskutiert man über die Operation des Trainers; anstatt die Operation des Abgeordneten Soundso zu kritisieren, kritisiert man die Operation des Spielers Soundso; anstatt sich zu fragen (eine schwierige und obskure Frage), ob Minister X obskure Pakte mit der Macht Y unterschrieben hat, fragt man sich, ob das WM-Finale durch Zufall oder durch spielerisches Können oder durch diplomatische Alchimien zustandekommt.

Das Reden über den Fußball verlangt eine sicher nicht vage, aber alles in allem begrenzte, genau umrissene Kompetenz; es erlaubt Stellungnahmen, Meinungsäußerungen, Lösungsvorschläge, ohne daß man sich der Verhaftung, dem Radikalenerlaß oder jedenfalls dem Verdacht aussetzt.

Es verlangt nicht, daß man sich überlegt, wie man persönlich eingreift, da man ja über etwas spricht, das weit außerhalb des eigenen Machtbereichs abläuft. Mit einem Wort, es erlaubt, Politik zu spielen: Politik als Führung der Causa Publica ohne all die Beschwernisse, all die Pflichten, all die schwierigen Fragen der politischen Diskussion. Es ist für erwachsene Männer so etwas wie das Hausfrau-Spielen für kleine Mädchen: ein pädagogisches Spiel, das lehrt, den eigenen Platz in der Gesellschaft zu finden.

Betrachten wir uns doch einmal selber, wir als kritische Italiener in einem Moment wie diesem, in dem die Beschäftigung mit der Causa Publica (der wahren) so traumatisch ist? Angesichts einer Entscheidung wie der „zwischen Italien und Argentinien“ sind wir allesamt Argentinier, nicht wahr, und jene paar nervtötenden Argentinier, die uns immer noch daran erinnern, daß dort unten alle naselang jemand verschwindet, sollen bitte schön endlich aufhören, uns die Freude an dieser hehren Darbietung zu vermiesen. Wir haben ihnen vorher zugehört, und das höflich, also was verlangen sie noch? Mit einem Wort, diese ganze Fußball-WM ist für uns wie der Parmesan auf den Makkaroni. Endlich mal was, das nichts mit den Roten Brigaden zu tun hat!

Apropos welcher bekanntlich, wie der nicht gänzlich zerstreute Leser weiß, zwei Hypothesen in Umlauf sind (wobei ich nur die extremen erwähne, die Wirklichkeit ist immer ein wenig komplexer). Nach der ersten sind sie eine Gruppe, die von der Macht ferngesteuert wird, womöglich aus dem Ausland. Nach der zweiten sind sie „Genossen, die falsch liegen“, die sich in höchst verwerflicher Weise aufführen, aber alles in allem aus noblen Motiven (Kampf für eine bessere Welt).

Wenn nun die erste Hypothese stimmt, gehören die Roten Brigaden und die Organisatoren der Fußball-WM zur selben Artikulation der Macht: Die einen destabilisieren im geeigneten Augenblick, die anderen restabilisieren zur rechten Zeit. Das Publikum ist gehalten, dem Spiel Italien-Argentinien zu folgen, als wär’s das Match zwischen Curcio und Andreotti, womöglich mit Totowetten auf die nächsten Attentate. Wenn dagegen die zweite Hypothese stimmt, sind die Roten Brigaden Genossen, die wirklich sehr falsch liegen.

Denn sie bemühen sich mit soviel gutem Willen, Politiker zu ermorden und Montagebänder zu sprengen, und dabei ist die Macht leider gar nicht so sehr in den Chefetagen zu finden, sie steckt vielmehr in der Fähigkeit der Gesellschaft, Spannungen immer gleich wieder auf andere Pole umzuleiten, die der Seele der Massen viel näher sind. Ist der bewaffnete Kampf am Sonntag des Endspiels möglich?

Vielleicht müßte man weniger allgemeine politische Diskussionen führen und statt dessen mehr Soziologie der Circenses betreiben. Auch weil es Circenses gibt, die nicht auf den ersten Blick als solche erscheinen: zum Beispiel gewisse Zusammenstöße zwischen Polizei und „gegensätzlichen Extremisten“, die in manchen Zeiten immer nur samstags stattfinden, nachmittags zwischen fünf und sieben. Sollte Videla etwa Agenten in die italienische Gesellschaft eingeschleust haben?

(19. Juni 1978)